Datum 13. Oktober 1989
Ereignis 89/10/13/00/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis BStU, Zentralarchiv, MfS Sekretariat Neiber Nr. 981
Quellenabschnitt Bl. 937-949
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Zur Entwicklung der Fahnenfluchten

Seit August dieses Jahres nahmen die Fahnenfluchten von Angehörigen der NVA im Zusammenhang mit und unter Ausnutzung der Öffnung der Grenzen in der Volksrepublik Ungarn zur BRD stark zu.
Während es in den zurückliegenden Jahren (seit 1980) jährlich höchstens 3 Armeeangehörigen gelungen war, das NSA [Nicht-sozialistisches Ausland] zu erreichen, und zwischen 17 und 26 Fahnenflüchtige auf dem Territorium der DDR festgenommen werden konnten, erfolgten seit 1. Juli dieses Jahres bereits

- 37 Fahnenfluchten in die BRD (bis 1. Juli 1 FF [Fahnenflüchtiger])
- 49 Festnahmen auf dem Territorium der DDR (Ziel BRD).

Von den Fahnenfluchten der NVA waren

- 7 Offiziere - 1 Fähnrich
- 21 Unteroffiziere - 9 Soldaten.

Charakteristisch ist, daß der überwiegende Teil der Fahnenflüchtigen vor der Tat fachlich, politisch und charakterlich positiv beurteilt wurde. Einige gehörten zu den Besten der Einheiten.
In den Grenztruppen der DDR ist die Anzahl der Fahnenfluchten ebenfalls, jedoch nicht so drastisch und situationsbezogen wie in der NVA angestiegen. Im Jahr 1989 gab es bisher
19 Fahnenfluchten in das NSA (Mittelwert der letzten 5 Jahre: 13) davon

- 2 Offiziere
- 4 Unteroffiziere - 13 Soldaten.

7 Angehörige der Grenztruppen mit Fahnenfluchtabsichten Ziel BRD sind festgenommen worden.
Die Täter flüchteten fast ausschließlich aus dem Grenzdienst heraus, nachdem sie den Postenführer bzw. Posten getäuscht, überwältigt oder mit der Waffe bedroht hatten. In 2 Fällen gelangten Angehörige der Grenztruppen der DDR über das sozialistische Ausland in die BRD. Beide dienten in sicherstellenden Einheiten und hatten keine Perspektive für den Einsatz im Schutzstreifen.

3. Ungesetzliches Verlassen der DDR

Seit August 1989 hat sich analog dem Fahnenfluchtgeschehen in der NVA das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Zivilbeschäftigte entwickelt. Derartige Delikte gab es in der NVA und in den Grenztruppen der DDR vordem nur in seltenen Ausnahmefällen.
Vorwiegend über die UVR [Ungarische Volksrepublik] haben seitdem 37 Zivilbeschäftigte die DDR verlassen. Wegen dringenden Verdachts des ungesetzlichen Verlassen der DDR wurden 6 Zivilbeschäftigte festgenommen.

4. Antisozialistische Äußerungen und Handlungen

Seit Beginn des 2. Halbjahres mit der Entwicklung von antisozialistischen Gruppierungen im Innern der DDR, besonders im Zusammenhang und mit den Demonstrationen und Ausschreitungen in der 1. Oktoberdekade, sind eine Reihe von NVA Angehörigen mit operativ relevanten Verhaltensweisen angefallen.

- An antisozialistischen Aktionen direkt beteiligt waren 14 Armeeangehörige.

Ein Unterleutnant der NVA (21; OaZ [Offizier auf Zeit]; Zugführer; Pionierregiment Storkow) beteiligte sich am 7.10.1989 in Berlin an einem „Sitzstreik", um damit die Zulassung des „Neuen Forums" zu fordern.
Es wurde ein Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB eingeleitet und Haftbefehl erlassen.
Ein Leutnant der NVA (25; BO [Berufsoffizier]; Politstellvertreter einer Kompanie; 3. LVD/LSK-LV)[ Luftverteidigungsdivision der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung] engagierte sich am 6.10.1989 in einer Gaststätte in Berlin für die Gruppierung „Neues Forum".
(Wird aus der NVA entlassen - Untersuchung durch HA IX/6 erfolgte.).
12 Unteroffiziere bzw. Soldaten wurden wegen Beteiligung an Demonstrationen in Berlin, Magdeburg, Leipzig und Dresden erfasst. An direkten feindlichen Handlungen waren sie nicht beteiligt.

- Gegen 2 Soldaten wurden Ermittlungsverfahren wegen Anbringen antisozialistischer Losungen im Objektbereich eingeleitet.
- In 16 Fällen wurde die Verbreitung von Resolutionen, Aufrufen u. a. oppositionellen Schriften innerhalb der NVA bekannt, die ausnahmslos aus dem zivilen Bereich mit in die Dienststelle gebracht worden waren (Urlaub/Ausgang).

5. Erscheinungen beeinträchtigter Standhaftigkeit / Verunsicherung

Neue Erkenntnisse für die Klärung der Frage „Wer ist wer?" wurden auch bei der Bildung und Vorbereitung der Hundertschaften zur Unterstützung bei der Herstellung von Ordnung und Sicherheit in Dresden und Plauen gewonnen.

- 45 Armeeangehörige haben die Teilnahme an Einsätzen zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der staatlichen Sicherheit und Ordnung wegen politischer und moralischer Bedenken bzw. aus Angst abgelehnt.

Darunter befanden sich

5 Offiziere
12 Unteroffiziere.
- Infolge der in jüngster Zeit an Umfang und Intensität zunehmenden Beschimpfungen von Angehörigen der NVA und insbesondere der Grenztruppen der DDR im Urlaub und Ausgang durch Jugendliche/Jungerwachsene haben in allen Teilstreitkräften und in den Grenztruppen der DDR Erscheinungen von Angst und Verunsicherung zugenommen.
Aufgrund zum Teil sehr aggressiv geführten Beleidigungen und Tätlichkeiten vorwiegend Jugendlicher gegen Militärpersonen auf Straßen, in Gaststätten und in Reisezügen sowie der allgemeinen Passivität umstehender Zivilpersonen gibt es die Tendenz, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr in Uniform zu bewegen.

6. Die Anzahl der Austritte aus der SED ist insgesamt angestiegen. In der Parteiinformation der PHV [Politische Hauptverwaltung] vom 13.9.1989 sind für den Zeitraum vom 1. Juli bis 13. September angegeben:
102 Austritte
135 Streichungen 135 Ausschlüsse. Im gesamten Ausbildungsjahr 1987/88 gab es nur
46 Austritte (sowie 132 Streichungen, 332 Ausschlüsse).

7. Die dargestellten Tendenzen beweisen, daß Wirkungserscheinungen der politisch ideologischen Diversion zunehmen und negative Einflüsse aus dem zivilen Bereich gleichfalls allmählich ansteigen. Das spiegelt sich auch in den Veränderungen des Stimmungs- und Meinungsbildes wider.
Dabei hat die Widerspiegelung von Schwierigkeiten bei der Vervollkommnung des Sozialismus in der DDR und von Problemen bei der Realisierung der politischen und organisatorischen Maßnahmen zur Reduzierung, Reorganisation und Umstrukturierung der Streitkräfte wesentlichen Einfluß. [...]

   
interne Nummer 00028