Zur Entwicklung der Fahnenfluchten
Seit August dieses Jahres nahmen die Fahnenfluchten von Angehörigen
der NVA im Zusammenhang mit und unter Ausnutzung der Öffnung der
Grenzen in der Volksrepublik Ungarn zur BRD stark zu.
Während es in den zurückliegenden Jahren (seit 1980) jährlich
höchstens 3 Armeeangehörigen gelungen war, das NSA [Nicht-sozialistisches
Ausland] zu erreichen, und zwischen 17 und 26 Fahnenflüchtige auf
dem Territorium der DDR festgenommen werden konnten, erfolgten seit
1. Juli dieses Jahres bereits
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37 Fahnenfluchten in die BRD (bis 1. Juli 1 FF [Fahnenflüchtiger]) |
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49 Festnahmen auf dem Territorium der DDR (Ziel BRD). |
Von den Fahnenfluchten der NVA waren
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7 Offiziere - 1 Fähnrich |
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21 Unteroffiziere - 9 Soldaten. |
Charakteristisch ist, daß der überwiegende Teil der Fahnenflüchtigen
vor der Tat fachlich, politisch und charakterlich positiv beurteilt
wurde. Einige gehörten zu den Besten der Einheiten.
In den Grenztruppen der DDR ist die Anzahl der Fahnenfluchten ebenfalls,
jedoch nicht so drastisch und situationsbezogen wie in der NVA angestiegen.
Im Jahr 1989 gab es bisher
19 Fahnenfluchten in das NSA (Mittelwert der letzten 5 Jahre: 13) davon
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2 Offiziere |
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4 Unteroffiziere - 13 Soldaten. |
7 Angehörige der Grenztruppen mit Fahnenfluchtabsichten Ziel
BRD sind festgenommen worden.
Die Täter flüchteten fast ausschließlich aus dem Grenzdienst
heraus, nachdem sie den Postenführer bzw. Posten getäuscht,
überwältigt oder mit der Waffe bedroht hatten. In 2 Fällen
gelangten Angehörige der Grenztruppen der DDR über das sozialistische
Ausland in die BRD. Beide dienten in sicherstellenden Einheiten und
hatten keine Perspektive für den Einsatz im Schutzstreifen.
3. Ungesetzliches Verlassen der DDR
Seit August 1989 hat sich analog dem Fahnenfluchtgeschehen in der NVA
das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Zivilbeschäftigte entwickelt.
Derartige Delikte gab es in der NVA und in den Grenztruppen der DDR
vordem nur in seltenen Ausnahmefällen.
Vorwiegend über die UVR [Ungarische Volksrepublik] haben seitdem
37 Zivilbeschäftigte die DDR verlassen. Wegen dringenden Verdachts
des ungesetzlichen Verlassen der DDR wurden 6 Zivilbeschäftigte
festgenommen.
4. Antisozialistische Äußerungen und Handlungen
Seit Beginn des 2. Halbjahres mit der Entwicklung von antisozialistischen
Gruppierungen im Innern der DDR, besonders im Zusammenhang und mit den
Demonstrationen und Ausschreitungen in der 1. Oktoberdekade, sind eine
Reihe von NVA Angehörigen mit operativ relevanten Verhaltensweisen
angefallen.
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An antisozialistischen Aktionen direkt beteiligt waren 14 Armeeangehörige. |
Ein Unterleutnant der NVA (21; OaZ [Offizier auf Zeit]; Zugführer;
Pionierregiment Storkow) beteiligte sich am 7.10.1989 in Berlin an einem
„Sitzstreik", um damit die Zulassung des „Neuen Forums"
zu fordern.
Es wurde ein Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB eingeleitet
und Haftbefehl erlassen.
Ein Leutnant der NVA (25; BO [Berufsoffizier]; Politstellvertreter einer
Kompanie; 3. LVD/LSK-LV)[ Luftverteidigungsdivision der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung]
engagierte sich am 6.10.1989 in einer Gaststätte in Berlin für
die Gruppierung „Neues Forum".
(Wird aus der NVA entlassen - Untersuchung durch HA IX/6 erfolgte.).
12 Unteroffiziere bzw. Soldaten wurden wegen Beteiligung an Demonstrationen
in Berlin, Magdeburg, Leipzig und Dresden erfasst. An direkten feindlichen
Handlungen waren sie nicht beteiligt.
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Gegen 2 Soldaten wurden Ermittlungsverfahren wegen Anbringen antisozialistischer
Losungen im Objektbereich eingeleitet. |
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In 16 Fällen wurde die Verbreitung von Resolutionen, Aufrufen
u. a. oppositionellen Schriften innerhalb der NVA bekannt, die ausnahmslos
aus dem zivilen Bereich mit in die Dienststelle gebracht worden
waren (Urlaub/Ausgang). |
5. Erscheinungen beeinträchtigter Standhaftigkeit / Verunsicherung
Neue Erkenntnisse für die Klärung der Frage „Wer ist
wer?" wurden auch bei der Bildung und Vorbereitung der Hundertschaften
zur Unterstützung bei der Herstellung von Ordnung und Sicherheit
in Dresden und Plauen gewonnen.
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45 Armeeangehörige haben die Teilnahme an Einsätzen
zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der staatlichen Sicherheit
und Ordnung wegen politischer und moralischer Bedenken bzw. aus
Angst abgelehnt. |
Darunter befanden sich
5 Offiziere
12 Unteroffiziere.
- Infolge der in jüngster Zeit an Umfang und Intensität zunehmenden
Beschimpfungen von Angehörigen der NVA und insbesondere der Grenztruppen
der DDR im Urlaub und Ausgang durch Jugendliche/Jungerwachsene haben
in allen Teilstreitkräften und in den Grenztruppen der DDR Erscheinungen
von Angst und Verunsicherung zugenommen.
Aufgrund zum Teil sehr aggressiv geführten Beleidigungen und Tätlichkeiten
vorwiegend Jugendlicher gegen Militärpersonen auf Straßen,
in Gaststätten und in Reisezügen sowie der allgemeinen Passivität
umstehender Zivilpersonen gibt es die Tendenz, sich in der Öffentlichkeit
nicht mehr in Uniform zu bewegen.
6. Die Anzahl der Austritte aus der SED ist insgesamt angestiegen.
In der Parteiinformation der PHV [Politische Hauptverwaltung] vom 13.9.1989
sind für den Zeitraum vom 1. Juli bis 13. September angegeben:
102 Austritte
135 Streichungen 135 Ausschlüsse. Im gesamten Ausbildungsjahr 1987/88
gab es nur
46 Austritte (sowie 132 Streichungen, 332 Ausschlüsse).
7. Die dargestellten Tendenzen beweisen, daß Wirkungserscheinungen
der politisch ideologischen Diversion zunehmen und negative Einflüsse
aus dem zivilen Bereich gleichfalls allmählich ansteigen. Das spiegelt
sich auch in den Veränderungen des Stimmungs- und Meinungsbildes
wider.
Dabei hat die Widerspiegelung von Schwierigkeiten bei der Vervollkommnung
des Sozialismus in der DDR und von Problemen bei der Realisierung der
politischen und organisatorischen Maßnahmen zur Reduzierung, Reorganisation
und Umstrukturierung der Streitkräfte wesentlichen Einfluß.
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