Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/17/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis Hans – Hermann Hertle (Hrsg.); "Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees."; Berlin 1997; Tonbandabschrift der ZK Sitzung
Quellenabschnitt ebenda S. 323
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Vors. Egon Krenz:
Genossen! Bevor jetzt das Wort Wolfgang Herger nimmt und danach Genosse Hans-Jürgen Trümper, möchte ich noch folgendes sagen: Der Genosse Schabowski wird wieder- wie gestern abend - Fragen der internationalen Presse zu beantworten haben. Die Konferenz ist zu 18.00 Uhr einberufen. Ich denke, wir sollten ihn auch befreien, selbst wenn wir die Diskussion nachher weiterführen. Es wird vorgeschlagen, daß außerdem die Genossin Helga Labs, der Genosse Gerhard Beil und der Genosse Manfred Banaschak daran teilnehmen, um Fragen der internationalen Presse zu beantworten. Es wird sicherlich, wie man sich denken kann, sehr viele Fragen geben zu unserer Parteikonferenz, weil seit 15.00 Uhr, seit unser Beschluß veröffentlicht ist, die Parteikonferenz durchzuführen, gehen eine Vielzahl von Fernschreiben hier im Zentralkomitee ein, denen eine Parteikonferenz nicht weit genug ist, die einen Sonderparteitag fordern. (Unruhe)
Moment, Genossen, das hängt damit zusammen, was hier eben gerade gesagt worden ist. Wir können im Moment jeden Beschluß fassen, das Vertrauen ist weg und jeder wird auf neue Ideen kommen. Ich denke, deshalb sollten wir Genossen Schabowski bevollmächtigen, auch aufgrund des Statuts unserer Partei, wo für einen Sonderparteitag unbedingt zwei Monate notwendig sind, bevor man ihn überhaupt einberufen kann, aufgrund unseres Statuts ganz konsequent die Idee der Parteikonferenz zu vertreten, weil das, was viele Genossen möchten, eine richtige Einschätzung zu haben und auch das Zentralkomitee zu ergänzen, das alles mit einer Parteikonferenz machbar ist, ohne die großen Aufwendungen und so weiter, die notwendig wären für einen Sonderparteitag. Mir scheint, die normalste Argumentation ist in diesem Fall wie auch auf anderen Gebieten die beste Argumentation. Aber es geht nicht, glaube ich, daß wir heute mittag einen Beschluß fassen und heute abend wieder unter dem Druck der Ereignisse einen anderen Beschluß fassen.
(Unruhe.)
Kann man sich so einigen, Genossen?
Zustimmende Zurufe: Ja! Ja bitte!

Hartmut König:
Ich würde noch darauf verweisen, daß es viele Zuschriften gegeben hat, die keinen Sonderparteitag, sondern eine Parteikonferenz gefordert haben.
Zurufe: Richtig! Jawohl!
Wir haben zwei Vorschläge auf dem Tisch, und wir haben uns nach meinem Dafürhalten für den Sinnvolleren entschieden.

Vors. Egon Krenz:
Jawohl. Ich wollte bloß die Genossen nicht im unklaren lassen. Es ist eine sehr eigenartige, eine sehr eigenartige Situation eingetreten. Ich war heute in der Mittagspause zu einem Gespräch mit Herrn Rau, und vor dem Staatsratsgebäude standen viele Leute, und man sagte mir, die warten auf Rau. Da denke ich, wenn sie auf Rau warten, dem wirst du das Geschäft mit der Öffentlichkeit nicht überlassen, bin also raus, und es stellte sich heraus, die warteten überhaupt nicht auf Rau, die warteten auf eine Möglichkeit, ihre Gedanken zu äußern zu einigen Fragen der Tagung unseres Zentralkomitees. Und ich habe kurz mit ihnen gesprochen. Und da war sogar jemand gekommen, ein Genosse, der sagt, hier habe ich eine Petition, von soundsoviel Leuten unterschrieben. Also, es entstehen im Moment viele, viele Ideen und viele Gedanken. Und deshalb, glaube ich, hat gerade das an Bedeutung gewonnen, was Günther Sicher vorhin ausgesprochen hat. Deshalb sage ich das einfach. Wir müssen in dieser Situation alles, aber auch alles tun, damit wir auch durch Solidität, durch Souveränität, beruhigend auf die Situation einwirken und keinem das Gefühl vermitteln, wir meinen nur Taktik, sondern wir meinen's wirklich ernst.
Ich denke, mit diesem Mandat rüsten wir Genossen Schabowski aus. Gestern abend ist das allgemein sehr gut angekommen, ja, und er wird das sicherlich heute abend auch wieder machen. Mit den anderen Genossen natürlich. Einverstanden? - Gut! Dann hat jetzt das Wort Genosse Wolfgang Herger.

   
interne Nummer 00001b

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/17/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Heinz Keßler; "Zur Sache und zur Person. Erinnerungen."
Berlin 1996.
Quellenabschnitt ebenda S. 303 ff.
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Ursprünglich sollte die Verordnung von der Pressestelle des für das Paß- und Meldewesen zuständigen Innenministeriums veröffentlicht werden, doch Dickel meinte, die Bedeutung des Beschlusses ginge weit über die Vollmacht seines Ressorts hinaus - er solle vom Presseamt des Vorsitzenden des Ministerrates herausgegeben werden. So konnte es geschehen, daß - etwa eine Stunde später - Egon Krenz nur noch mitteilte, daß nun Günter Schabowski und drei weitere Genossen zur internationalen Pressekonferenz aufbrechen müßten, um dort über den zweiten Tag des Plenums zu berichten. Auch bei dieser kurzen Ankündigung war von der verabschiedeten Ausreiseregelung nicht die Rede. Krenz forderte Schabowski lediglich auf, den ebenfalls gefaßten Beschluß zur Einberufung der 4. Parteikonferenz vom 15. bis zum 17. Dezember zu erläutern und nötigenfalls auch zu verteidigen, da sich inzwischen Telegramme, Fernschreiben und Anrufe häuften, die einen Sonderparteitag mit allen Beschlußvollmachten und der Möglichkeit, die gesamte Parteiführung neu zu wählen, forderten. Ich sah noch, daß Krenz den Text der Reiseverordnung - gewissermaßen für alle Fälle - Schabowski beim Weggehen in die Hand drückte. Ich kann mich nicht genau erinnern, ob Schabowski während der Entscheidung über ihre Endfassung im Saal anwesend war oder nicht.

   
interne Nummer 00002a

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/17/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Egon Krenz; "Wenn Mauern fallen." Urschrift
von einem Mitglied des NVA-Forums (Sven_10) zur Verfügung gestellt.
Quellenabschnitt  
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Es muß so gegen 17:15 Uhr gewesen sein. Da beugte sich Günter Schabowski zu mir herüber. Er entschuldigte sich bei mir für den Rest der heutigen ZK-Tagung. Um 18 00 Uhr fand wieder eine internationale Pressekonferenz statt. Schabowski sollte über den Verlauf der ZK -Tagung informieren. Ich teilte dies den ZK- Mitgliedern mit. Es wurde festgelegt, daß mit ihm zusammen die ZK-Mitglieder Manfred Bannaschack, Gerhard Beil und Helga Labs zur Pressekonferenz gehen. Dann fragte mich Schabowski noch, ob er vor den Massenmedien bereits über die neuen Regelungen zum Reiseverkehr sprechen könne. Ich sagte zu ihm: ”Unbedingt. Das ist doch die Weltnachricht!” Da er offensichtlich nicht im Besitz einer Ministerratsvorlage war, gab ich ihm mein Exemplar , das ich im ZK vorgelesen hatte. Schabowski bedankte sich und fuhr zum Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße.

   
interne Nummer 00003a

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/17/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Günter Schabowski; "Der Absturz."
Berlin 1991
Quellenabschnitt S. 306 ff
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Kurz vor 18 Uhr kehrte ich in die Beratung zurück. Ich flüsterte Krenz zu, daß ich jetzt ins Internationale Pressezentrum müßte, um die ausländischen Journalisten über den Verlauf der ZK-Tagung zu informieren. Krenz drückte mir zwei DIN-A4 Blätter in die Hand, in einen Halbdeckel geklammert. "Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns." Es war ein Exemplar der Regierungsvorlage über die vorgezogene Reiseregelung. Krenz hatte es von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung zur
Begutachtung und Absegnung erhalten. Nach dem Placet des Politbüros sollte es sofort im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden.
Ich hatte also einen vom Kabinett noch nicht bestätigten Beschluß in der Hand und wußte es nicht. Das erklärt auch, warum bis zu meiner Mitteilung und noch Stunden danach die Grenzposten ahnungslos waren. Die große Auflassung sollte erst nach der Runde im Ministerrat gegeben werden.

   
interne Nummer 00004b